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Main DERHANK

Der folgende Traum ein Albtraum.
Ein einziges Tohuwabohu aus Gebadetwerden, Angezogenwerden, Ausgezogenwerden, wieder Angezogenwerden, in einem Stuhl auf Rädern durch mintfarbene Flure geschoben. Er sah Liza und Harry, in grauen Pyjamas, »Djalu!«, rief Liza hinter Tränen, Wo sind die drei anderen?, »Djalu, man bringt mich weg ...«. Wo sind Chelis, Eff und Perf?
»Djalu, pass BITTE auf Harry auf ...!« Wie bitte?
Weitergeschoben, in einen hölzernen Raum; Bücher, Tische, Ledersessel. Ein Mann und drei Frauen in grauen und schwarzen Kutten, vier Kreuze am Hals (keine Vierkreuze), die Frauen mit weißen Hauben auf den rosigen Köpfen und strengen Gesichtern. Außerdem zwei Weißkittelmänner und andere Männer in dunkelgrünen Anzügen, Männer, die viel fragen und seine Antworten nicht verstehen.
1968, Djalu, neunzehnhundertachtundsechzig!
Man kommt überein, dass keiner der in Deutschland stationierten Amerikaner einen Negerjungen vermisst, und man dich also in einem Kinderheim unterbringen und zur Adoption freigeben werde. Tausende deiner unechten echten - weil australischen - Negerbrüder und -schwestern haben bereits ein neues Heim. Ein Heim, eine Farm, eine Familie. Eine weiße Familie. Die Ureinwohner Australiens sind seit einem Jahr auch Staatsbürger Australiens, jetzt müssen ihre Kinder etwas lernen: Rechnen, schreiben, lesen - und wie man weiß wird. Denn der Weiße Mann hat einen Traum, mitten im Land der Traumpfade sagt er »I have a dream« und holt die Kinder ab. Und während sie aus den Armen ihrer Mütter und Väter gerissen werden, singen die Kinder »Wer hat Angst vorm Weißen Mann?« Die 'Assimilierten', nennen sich später 'Stolen Generation', aber wenigstens müssen sie nicht hungern. Wie zum Beispiel die Neger in Afrika.
1968 erreicht das deutsche Wirtschaftswunder seinen Zenit, da bekommen auch in Afrika die Kinder dicke Bäuche, aber das Einzige, was sie wirklich satt haben, ist die verbrannte Erde. Besonders dick sind die Bäuche in Biafra, fast so dick wie die Bäuche von Chelis und seinen Schwestern, die aufgrund einer außerirdischen Lebensmitteltotalunverträglichkeit fußballgroß anschwellen.
Die Neger in Amerika haben keine Hungerbäuche. Wie ihre Nichtbrüder in Australien sind sie seit ein paar Jahren sogar Staatsbürger! Umso unbegreiflicher für den Weißen Mann, dass gerade sie sich am Traum der neuen Weltordnung stoßen. Warum?, fragt der Weiße Mann, warum nur? »Wann wird man (mich) je verstehen?«, fragt er, wir haben doch das Jahr 1968!, der Weiße Mann, das Nonplusultra des Homo sapiens, hat sich - wie ihm geheißen - nach einem 2000-jährigen Kreuzzug den Planeten Erde untertan gemacht.
Während der Negerjunge Djalu von fernen Planeten und Schmetterlingsmenschen und fliegenden Riesenkartoffeln erzählt und sein Blick an blank polierten Uniformknöpfen hinauf- und hinabwandert, baut sich der Weiße Mann auf SEINEM Planeten nach Entwürfen des Architekten Minoru Yamasaki einen Turm. Und weil der Weiße Mann Angst hat, gleich daneben einen zweiten. Zur Sicherheit. Sieben Jahre baut er an den Türmen. Aus Geld baut er die Türme, und wenn sie fertig sind, kann der Weiße Mann hinaufsteigen und hinabschauen. Und sein Geld hinunterwerfen. Hundertmillionen Dollarnoten, die von den Türmen flattern und in die Welt wehen. Ein Geldsegen, Geldregen, der die Wüsten des Negers fruchtbar macht. So der Traum des Weißen Mannes. Den aber weder seine Träume noch seine Türme davor bewahren können, dass 1968 seine Welt außer Kontrolle gerät; ein Hexenkessel außer Rand und Band, Büchse der Pandora, Hottentottentotentanz! Wespennest! Exzess! Entfesseltes Inferno in Vietnam, am schlimmsten aber die Neger in den eigenen Reihen, die dem weißen Mann einen wahren Dolchstoß versetzen: Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen Allerortens, Vietnamkrieg, Straßenkampf und Prager Frühling, die Töchter des Weißen Mannes sind feministisch, seine Söhne tragen lange Haare, alle hören sie Negermusik und die Originale demonstrieren gegen die Rassentrennung.
»But I have a dream«, sagt der Weiße Mann und schießt zurück. 50.000 Kugeln für jeden gefallenen Vietcong, eine für Martin Luther King, und während die grünberockten Männer von Djalus fantastischem Unsinn die Nase voll haben, rollen sowjetische Panzer über die tschechische Grenze. Das mexikanische Tlatelolco wird massakriert und der gelbe Dschungel mit Agent Orange bloßgestellt. »I will never surrender«, ruft der Weiße Mann in die Schwarze Nacht und schlägt so lange um sich, bis die Geister, die er nie rief, verstummen. Bis sie in drogenberauschte Parallelwelten abtauchen, zu terroristischen Zellen vereinzeln oder sich im Marsch durch die Institutionen verlieren.
»We shall overcome!«, singt der Weiße Mann. Denn das 20ste Jahrhundert ist sein Jahrhundert!
Geh nur wieder ins Bett, mein kleiner Freund, was soll man hier mit deinen Geschichten? UNGLAUBLICH? Mitten im letzten Gefecht sind sechs Bergwerkskinder der 'M-Schau' gerade mal eine Randnotiz wert. Träume nur weiter, kräftige dich, das letzte Drittel dieses Jahrhunderts wird die Zeit eines trügerischen Dornröschenschlafs sein. Kein Weißer Riese wird verhindern, dass sich jenseits des Limes aus sauberen Bettlaken die Neger weiter vermehren, um schon bald wieder die Slums und die Albträume der Sieger zu beherrschen.
Insbesondere die Neger des Nahen Ostens: Im Sechstagekrieg zu Staub zertreten, warten sie im Staub auf den Beginn ihres Jahrhunderts. Die berühmten ägyptischen Foltergefängnisse sind nach der Hinrichtung des Muslimbruders Sajid Qutbs nur scheinbar arbeitslos, Ajman al-Sawahiris islamische Zelle steckt noch in den Kinderschuhen und der zehnjährige Osama bin Laden geht brav auf die staatliche al-Thagr-Schule in Dschidda, wo er sogar die Schuluniform des Weißen Mannes trägt. Und als am ersten September Djalu und Harry ins nahegelegene Kinderheim Hieronymus Ämiliani verbracht werden, kommt in Ägypten Muhammad ‘Atta as-Sayyid zur Welt, als Sohn eines Saudis, der im Nahen Osten die Gerechtigkeit vertritt.
Wie die weiße Negerin Ulrike Meinhof, die sich für Heimkinder einsetzt. Waisenkinder.
Wie du.
»Armes Waisenkind«, sagte die dicke Schwester, und Djalu sah sich um. Wen meint sie? Was ist das? Was ist ein WAISENKIND? Weißen-Kind?
Armer Junge, gib nur acht auf deinen Holzsplitter, gib nur acht auf Yurlunggur, das ist schon ein seltsamer Traum, diese Erde. Wann bist du geboren? Am ... na? Am ...
»Achtun... Achtundzwanzigster Mar... März Zweitausen'un'zehn ...«, stotterte Djalu. Ich kann schon gut sprechen!