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Main DERHANK

Es hatte geknackst, als ihn das Holz niederstreckte. Das Knacksen ist das Einzige, an das sich Simon erinnern kann. Das Geräusch hat etwas hinterlassen. Einen Bruch.
Physisch in seinem Kopf. Einen feinen Haarriss im Knochengewebe von Simons Schädel. Im übertragenen Sinne einen offenen Spalt, der das Vorher seines Lebens vom Nachher trennt. Simon ist nicht mehr der Alte.
Der alte Simon war ein anderer: innerlich ausgeglichen und beruflich abgesichert, dabei der Geranienzucht mehr zugetan als einer kräftezehrenden Karriere. Der alte Simon liebte seinen Balkon. Und Katleen, seine schwangere Ehefrau, seine »bessere Hälfte«, wie er sie nannte. Katleen war fester Bestandteil einer kleinen, heilen Welt: einer Welt über den roten Dächern der Stadt, unterm blauen Himmel und umgeben von den Blüten des Weißen Storchschnabel, Simons bevorzugter Geraniensorte.
Der neue Simon ist dagegen unruhig, haltlos und aufgewühlt. Der neue Simon hat einen »Sprung in der Schüssel«.
Das sind jedenfalls die ersten Worte, die zu ihm durchdringen, während er langsam zu sich kommt. Dabei hat Katleen, die treu an seinem Bett wacht und mit dem Arzt plaudert, gar nicht ihn gemeint. Trotzdem scheint sie sich ertappt zu fühlen, als sie seine offenen Augen bemerkt.
»Die Kanne, Simon«, beschwichtigt sie ihn, »sie ist dir auf den Kopf gefallen. Du weißt schon, deine weiße Teekanne! Aber sie ist heil geblieben. Sie hat nur einen Sprung, kaum zu erkennen!« Dann lacht sie, als wolle sie ihn, sich selbst oder das Baby in ihrem Bauch beruhigen.
Zu Hause betrachtet Simon die Kanne. Sie steht oben auf dem Regal. Eine große, weiße Teekanne, schnörkellos und rund wie eine Kugel. Seine Teekanne. Mit einem Sprung.
»Spring!«, sagt Simon.
So muss es gewesen sein! Die Teekanne ist auf ihn gesprungen! Jetzt glaubt er sogar, sich an Katleens Schrei zu erinnern. Ohne Simon wäre die Kanne auf den Fliesen zerschellt. Und er wäre heil geblieben. So aber sind sie beide nur noch halb heil. Und halb kaputt.
Abends, wenn Katleen bei ihm liegt, betrachtet Simon ihren runden Bauch. Rund wie das weiße Porzellan. Auch der Bauch hat einen Sprung. Eine feine braune Naht vom Nabel bis zum Schambein. Wenn er den Bauch anfasst, zuckt sie zusammen. Nur manchmal, zum Fernsehen, bettet sie ihren Kopf auf seiner Brust. Simon stellt sich dann vor, er würde den Arm, den er um ihren Hals gelegt hat, mit einem Ruck straffen, bis es »Knack!« macht.
Manchmal fühlt sich Simon von dem offenen Spalt in seinem Kopf dazu getrieben, die heile Welt von früher zu studieren. Dann tritt er hinaus und beobachtet den anderen Simon, der, nur einen Sprung entfernt, auf seinem Dachbalkon sitzt und Pfeife raucht. Die Pfeife verleiht ihm etwas Selbstzufriedenes. Das beruhigt. Die Ruhe des anderen Simon beruhigt.
Vielleicht, so denkt der neue Simon, müsse er nur lange genug hinüberschauen, dann wäre er wieder der Alte. Aber er mag den süßen Tabak nicht, dessen Geruch manchmal herüberweht. Und es beruhigt ihn gar nicht, in den Rauchschleiern Katleen zu sehen. Die Katleen von früher, die dem anderen Simon Tee auf den Balkon bringt. Denn von hier aus kann Simon so etwas wie Abscheu in ihren Augen erkennen. Die Frau blickt auf den arglosen Mann mit der Pfeife, als wolle sie ihn anspucken.
Aber sie bleibt freundlich. Sie hat sogar zwei Löffel Zucker in den Tee getan. Zucker aus einem dunkelbraunen Glas, das hinterm Küchenfenster in einem leeren Blumentopf steht.
Dem anderen Simon schmeckt der Tee trotzdem bitter, aber er möchte seine Frau nicht kränken. Unter ihren wachsamen Augen führt er die Tasse zum Mund und nickt anerkennend. Doch nachdem sie zurück in der Wohnung ist, gießt er den Tee in die Geranien. Der Tee macht die Geranien weiß. Weiß wie Schnee.
Katleen bringt auch dem neuen Simon manchmal Tee. Sie ist ja noch die alte. Aber der neue Simon lässt den Tee einfach stehen. Das macht sie wütend. Dann ist sie nicht mehr freundlich. Dann hört er sie schimpfen und fluchen, und sie wirbelt durch die Wohnung.
Katleen wirbelt den ganzen Tag durch die Wohnung. Sie baut einen Wickeltisch, sortiert rosa Wäsche und trägt Fläschchen und Gläschen umher. Sie wirbelt auch Simon durch die Wohnung. Obwohl er hin- und herspringt, ist er immer im Weg. Bis er den freien Platz neben der Teekanne entdeckt.
Das Regal ist breit und massiv, mit einer stabilen Aufhängung aus Stahl. Vom anderen Simon, der so etwas sehr genau nimmt, eigenhändig in der Wand verdübelt. Simon steigt auf die Arbeitsplatte. So weit es geht, rückt er die Kanne zur Seite. Dann zieht er sich hoch und kriecht zwischen das Geschirr. Er schiebt die Knie unter den Bauch, drückt den Hintern gegen die Decke und stützt sich auf seine Unterarme. Aus nächster Nähe sieht er den Sprung.
Er sei kaum zu erkennen, hat Katleen im Krankenhaus behauptet. Doch, denkt Simon, man kann ihn sehr wohl erkennen! Wie der gezackte Canyon auf einem Satellitenfoto, mit unregelmäßigen Ausbrüchen mal nach der einen und mal der anderen Seite. Der Sprung hat die bauchige Kanne in zwei gleich große Hälften unterteilt. Zwei Halbschalen, die von einer unbekannten Kraft zusammengehalten werden. Obwohl das Porzellan eigentlich hätte an Simons Kopf zerspringen müssen.
Katleen schreit, als sie ihn entdeckt. Dabei ist das Regal der einzige Ort, an dem er sie nicht stört.
Simon bleibt eine Weile in der Spezialklinik. Er sei verrückt, sagt Katleen dem Neurologen.
Wie die Teekanne, denkt Simon.
Bei seiner Entlassung ist er es immer noch. Als Katleen ihn abholen muss, begleitet sie ein fremder Mann.
»Ein Freund«, sagt sie.
»Guten Tag!«, sagt Simon.
»Zum Helfen«, sagt Katleen, »nur für den Fall.«
Doch schon bald darf Simon ihr helfen. Zum Beispiel in der Küche. Sie müsse sich nun schonen, und Simon, der seiner Firma nichts mehr nützt, soll sich wenigstens zu Hause nützlich machen. Aber selbst mit dem Kartoffelschäler kommt er nicht klar. Nur Fleisch schneiden, mit dem großen japanischen Keramikmesser, das geht. Und Tee aufgießen; auch das geht. Simon gibt Katleen Zucker in den Tee und stellt sich vor, wie er ihr die weiße Klinge in den runden Bauch stößt. Einfach aufspringen und die feine, braune Spalte öffnen. Danach gäbe es kein Zurück mehr.
Es gibt ohnehin kein Zurück mehr.
Katleen trinkt den Tee wie eine Medizin. Sie fühlt sich nicht wohl, sagt sie. Als sie das braune Zuckerglas sieht, wird ihr Gesicht weiß. Weiß wie Porzellan, denkt Simon.
Katleen springt auf. Ihr Stuhl fällt um. Sie krümmt sich und presst die Hände gegen ihren Bauch. Der Bauch glänzt und ist ganz hart; er sieht aus, als würde er gleich platzen. Katleen stolpert aus der Küche und verschwindet im Schlafzimmer. Er sei nicht mehr ganz dicht, ruft sie noch. Wie die Teekanne, denkt Simon. Oder ihr Bauch.
Als er Katleen schreien hört, weiß er weder ihr noch sich selbst zu helfen. Er irrt durch die Wohnung.
In der Kammer findet er den alten Kricketschläger. Weiß lackiertes Holz. Aus England. Ein Mitbringsel von der Hochzeitsreise. Wie die weißen Geranien. Der Schläger ist in der Mitte angeknackst.
Simon befühlt den scharfkantigen Spalt.
Der schöne Schläger, denkt er. Die Teekanne hat schon immer einen Sprung gehabt.
Auch in der Kammer hört er Katleen schreien. Sie ruft erst nach Hilfe, dann nach einem Arzt und, als ihre Stimme schwächer wird, nach dem fremden Freund. Sie ruft nicht nach Simon.
Simon geht auf den Balkon, um dem anderen Simon bei der Blumenpflege zuzusehen. Das beruhigt. Er sieht auch die andere Katleen. Hinterm Küchenfenster. Sie schreit nicht. Sie telefoniert und lacht. Ab und zu tätschelt sie das Zuckerglas.
Aber als sie auf ihren Mann schaut, schneidet sie eine Grimasse. Sie fletscht die Zähne und ihre verkrallten Finger zittern, als wollte sie ihn gleich zerquetschen.
Der andere Simon rupft verwelkte Blütenköpfe aus den weißen Geranien.
Er lächelt.
Die Geranien des neuen Simon sind aus Porzellan. Die roten Dächer auch. Und der Himmel ist Glasur. Die ganze Welt zarte, glänzende Keramik, wie eine Eierschale, die sich über ein dunkles, formloses Nichts spannt. Davon hat der andere Simon keine Ahnung. Nur der neue Simon kann das Nichts sehen. Durch den Sprung. Durch den man auch hineinfallen kann. Und sich darin auflösen. Selbst zu Nichts werden. Das Nichts ist ein dampfender Sud, stark und bitter wie der Tee in der weißen Kanne.
Simon wendet sich ab. Die Wohnung ist erfüllt von Katleens Stöhnen. Auch die Teekanne stöhnt. Auf dem Sprung bilden sich feine, zischende Bläschen. Sie rinnen langsam an dem Porzellan hinab. Und an seiner Stirn, an seinem Rücken, überall! Bald ist der ganze Küchentisch eine große, schwarze Pfütze; und mittendrin die weiße Kanne.
Simon geht ins Bad, wäscht sich, duscht. Doch kaum ist er zurück, kriechen schon wieder die öligen Tropfen über seinen Körper. Sie sammeln sich zwischen seinen Füßen und wollen ihn in die Tiefe ziehen.
»Lass dich fallen ...« säuseln sie.
Auf dem Regal ist er sicher. Solange Katleen im Schlafzimmer beschäftigt ist, kann er hier oben bleiben. Stundenlang. Mit seiner Teekanne.
Als es still wird, nimmt er den Deckel von der Kanne und blinzelt hinein. Innen ist alles voll Blut. Simon drückt seine Stirn auf den Rand. Er will den Sprung sehen. Er konzentriert sich so sehr darauf, dass er schließlich glaubt, in die Kanne hineinzurutschen.
Knöcheltief steht er im Schlamm, und das ihn umschließende Gewölbe ist mit einer dunkelbraunen Kruste überzogen. Simon hört das Baby. Wie ein Echo. Er hält sich die Ohren zu.
Endlich entdeckt er den feinen Riss. Der Sprung ist so nah. Simons Blick durchdringt ihn ohne Mühe. Er betrachtet die Küche. Das schwarze Blut tropft auf die schönen, weißen Fliesen.

Simon steht mit dem Baby auf dem Balkon. Ein weiches, klebriges Baby. So winzig, dass er es mit seinen Händen fast umschließen kann. Er hält es hoch, zeigt ihm den blauen Himmel und die roten Dächer. Er zeigt dem Baby auch den anderen Simon, der die weißen Geranien gießt. Der andere Simon hat kein Baby. Aber er freut sich drauf.
»Spring!«, sagt Simon.