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Main DERHANK

Die Rampe wurde hochgeschlagen und von außen verriegelt. Yosy war allein.
Ein kleines offenes Fenster vor ihm, zu hoch um durchzusehen, war die einzige Lichtquelle in der Kabine. Yosy starrte mit hängendem Kopf auf seine Hände, die ihre Farbe verloren hatten und ihm seltsam groß erschienen. Die Finger waren lang geworden, lang und knochig und die Zwischengelenke wie angeschwollen. Er hob die Linke vorsichtig an, betrachtete sie, krümmte sie. Wann hatte er das letzte Mal seine Finger angeschaut? Und wann das letzte Mal gekrümmt? Es tat weh, aber das Wehe war auch angenehm, wie die Entspannung nach einem Krampf.
Das Motorenbrummen wurde lauter, ein dumpfer Schlag, als der Gang eingelegt wurde, dann wackelte der ganze Hänger. Yosy verlor das Gleichgewicht, rutschte nach vorne und drückte unwillkürlich seine Klauen in die Späne. Die Gurte verhinderten, dass er zu Boden fiel, aber seine Gelenke knackten, und es klang, als würden sie wie Teile eines Steckpuzzles erst jetzt richtig einrasten. Als Yosy sich wieder gefangen hatte, hob er die flach gepresste Faust erneut vors Gesicht, drehte sie und betrachtete die Haare, die sich auf seinem Handrücken kräuselten. Das Öffnen der Finger war noch schwerer als das Schließen; erst durch Scharren und gleichzeitiges Drücken auf den Boden zog sich die Hand wieder in die Länge.
Das anfängliche Ruckeln, Neigen, Bremsen und Beschleunigen ging bald in ein gleichmäßiges Brummen über. Fahrtwind strich von oben über Yosys Kopf und verfing sich in seinen verfilzten Locken. Ach Mutter, dachte er, ich bin seit Monaten nicht beim Friseur gewesen.
Nach einer Weile schmerzten seine Knie, auf denen sein ganzes Gewicht lag. Yosy sah prüfend an sich hinunter, wollte feststellen, wie viel Spiel seine Beine noch hatten. Stämmig, muskulös, sehnig und drall waren die Oberschenkel geworden, verschwitzt glänzten sie unter drahtigen Haaren wie reife Keulen. Wie graue Keulen. War es das schwache Licht oder war etwas mit seinen Augen? Sein Körper war so grau wie alles.
Yosy verlagerte sein Gewicht nach vorne, stützte sich auf die flachen Riesenhände und zog das rechte Knie an, bis er dahinter seine Zehen erkennen konnte. Die schleppten sich krümmend und spreizend durch die Späne als wären es eingespannte Riesenmaden, die den restlichen Fuß wie einen urzeitlichen Karren hinter sich herzogen. Schließlich hockte Yosy erst rechts und dann auch links auf seinen Ballen, die Fersen hinten hochgezogen. Er döste ein.
Sein Nacken knackte, als der Kopf abrupt nach unten fiel. Plump landete der seltsame Apparat, der aus seinem Kindergesicht herausgewachsen war, im Staub. Hitze und Durst verursachten nun eine Übelkeit, die Yosy die Sinne raubte. Könnte er sich doch wenigstens hinlegen, dachte er. In dieser Position aber musste er befürchten, das Bewusstsein zu verlieren und sich in dem Strick zu erdrosseln.
Er konzentrierte sich auf die feinen Holzspäne, in denen seine Schnauze lag. Die brannten in der Wunde unterm Kinn und mit jedem keuchenden Atemzug zog er sie tiefer in seine Nasenhöhle hinein. Das damit verbundene Kribbeln beruhigte ihn. Sein Speichel schlug vor den wulstigen, sich immer wieder öffnenden Lippen Blasen, und wenn er mit der Zunge darüber fuhr, schmeckte er die aufgeweichten Späne. Er kaute darauf herum, spuckte sie wieder aus und leckte sie erneut auf. Zugleich machte er mit dem schweren, in die Länge gezogenen Kopf gleichmäßige Kreiselbewegungen, schraubte sich gewissermaßen durch bis zum festen Boden aus ungehobelten Holzplanken. Die rochen moderig - und ein wenig scharf, als hätten sie die Gerüche seiner Vorgänger gespeichert. Yosy drückte die Lippen darauf, bleckte die spitzen Zähne und fing an zu knabbern. Es war leicht, feine Splinte aus dem Holz herauszuschälen, und als er sie mit der Zunge abtastete, spürte er ältere Riefen, von denen er annahm, dass schon andere vor ihm sich mit dem gleichen Spiel die Zeit vertrieben hatten. Er rieb mit Lippen und Nasenflügeln eine kreisrunde Stelle frei, knabberte, leckte, und ab und zu stecke er die Schnauze in den rings umlaufenden Kraterrand aus Staub und Spänen, zog die Luft tief ein, bis es in der Lunge kitzelte, und dann schwenkte er den Kopf zurück und entleerte die Nüstern schnaubend auf dem nackten Holz, was aussah, als würde ein Gewitter über einen Miniaturgebirgssee hereinbrechen. Er wiederholte das unzählige Male, vergaß den beißenden Gestank, die Übelkeit, die Müdigkeit und den Durst.
Ein plötzlicher, stechender Schmerz im Nacken ließ ihn hochfahren. Das Seil spannte um den Hals, Yosy jaulte und schlug unbeholfen mit der Pfote nach der Stelle. Er streifte ein pelziges Insekt, das aus seinem Saugloch herausgerissen wurde und nun panisch zwischen den Hängerwänden umhersurrte. Wie kopflos knallte es von Wand zu Wand, stieß gegen die Decke und gegen Yosys Leib, fand aber weder das Fensterloch noch beruhigte es sich. Yosy gruselte es und die Haare auf seinem Rücken sträubten sich. Er hatte schon als Kind Pferdebremsen nie gemocht, und diese hier war viel größer als alles, was er je gesehen hatte. Diese hier war so fett wie eine ausgewachsene Hummel. Als sie in ihrer Raserei gegen sein Ohr klatschte, wäre er am liebsten davongelaufen.
Doch plötzlich, sie schien unglücklich irgendwo gegengestoßen oder einfach nur erschöpft zu sein, knallte sie direkt vor seiner Nase auf den imaginären Kratersee, lag für eine halbe Sekunde auf dem Rücken, zappelte dann mit ihren Beinchen und versuchte sich durch erneutes Summen wieder aufzurichten. Aber der Brummer schaffte es nicht, schlierte nur wie ein schwarzes Luftkissenboot zwischen den Ufern hin und her und musste immer wieder pausieren. Der Stich im Nacken schmerzte, doch Yosy war auch neugierig, er freute sich geradezu über diese Abwechslung. Durch die Nasenlöcher blies er kräftig aus und verwirbelte das Insekt mit einer ganzen Ladung aus feinem Holzmehl.
Nun war es unmöglich zu fliehen, der Staub drückte sich dem Kerbtier zwischen Flügel, Beine, Fühler und Härchen. Aber immerhin stand es jetzt auf den Füßen und versuchte ein paar Schritte. Die Stechfliege durchquerte Yosys Krater und blieb unschlüssig vor dem Rand stehen. Dann begann der Aufstieg, der ihr leichter fiel, als Yosy erwartet hatte. Also blies er ihr erneut seinen Atem entgegen, simulierte gewissermaßen den stürmischen Wind des Hochgebirges. Zudem häufelte er von außen behutsam zusätzliches Material gegen den Ring, drückte dagegen, wodurch die Hänge steiler wurden - und die Fliege schließlich nach unten rutschte und es von Neuem versuchen musste. Systematisch vervollständigte Yosy sein Werk, was nicht ganz einfach war, da - obwohl die Fahrt insgesamt sehr ruhig verlief - auch kleinere Erschütterungen die Berge immer wieder einstürzen ließen. Andererseits schaffte es die Fliege auch nie bis auf den umlaufenen Grat, der scheinbare Wettlauf gegen Yosys Landschaftsgestaltung war also von vorneherein aussichtslos. Und als es ihr doch einmal gelang, blies er ihr etwas Staub vor die Facettenaugen, was sie orientierungslos wieder hinuntertorkeln ließ.
Irgendwann fiel Yosy auf, dass er die Fliege kaum noch erkennen konnte. Seine Spielgefährtin war so erschöpft, dass sie sich nicht mehr bewegte. Es war dunkel geworden. Die Fahrgeräusche hatten sich geändert, es ruckelte, der Hänger neigte sich zur Seite, wurde langsamer, richtete sich wieder auf und stand still.
Yosy beugte den Kopf hinab, bis er mit der weichen Nasenspitze das Holz spürte. Seine Zunge, die ihm erstaunlich lang vorkam, strich er behutsam in einer Kreiselbewegung einmal rund um den Kratersee, bis sie die Fliege erfasste, die an seinem halb vertrockneten, klebrigen Speichel hängen blieb. Er rollte die Zunge ein, zog sie zurück, rollte sie im Mund wieder aus und schmiegte das kaum noch strampelnde Insekt sanft gegen den Gaumen, wo er es langsam zergehen lassen wollte.