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Main DERHANK

Er ist schon wieder größer geworden. Auf dem Einstellplatz der Lemperts. Die sind im Winterurlaub, deswegen fällt das so auf. Der Tiefgaragenboden ist überall ölig, dreckig und grau. Trotzdem hebt sich hier ein dunkler Fleck vom Estrich ab. Ein Fleck, durch den sich ein länglicher Riss zieht. Josef kniet nieder und legt vorsichtig seine rechte Hand auf den Boden. Es riecht. Riechst du es auch, Josef? Ja, Josef riecht es auch. Er verzieht das Gesicht. Und der Riss? Der Riss hat viele kleine Abzweige bekommen. Wie Eisschollen im Frühling kleben die sich auflösenden Estrichplacken aneinander. Das sieht spröde aus, ich spüre es, das ist spröde! Nein, Josef, fass da nicht rein, der Estrich ist ganz lose! Josef klopft mit dem Knöchel vorsichtig auf das verzweigte Netz. Es klingt hohl. ICH klinge hohl. Und wir beide wissen warum. Josef klopft fester. Was soll das? Josef! Nein! Jetzt schlägt er mit der Faust auf den Boden, sein Gesicht wird rot, er schwitzt, oder sind das ... Tränen?
Hast du Angst, Josef?
Der Beton zerspringt wie brüchiger Lehm. Da ist doch was! Natürlich ist da was, Josef! Mit beiden Händen schiebt er die losen Brocken beiseite. Ein Hohlraum, ein muffiger, schweflig riechender Hohlraum. Unter dem Plastik. Unter dicker, durchsichtiger Plastikfolie. Plastik, Josef, wie Deine Puppe, die kleine Li-Xin, nichts ...
Ich weiß, was du vorhast, natürlich, das ist klug! Den Zement holen, du hast genug in Deiner Werkstatt. Josef reißt mit den Händen weitere Placken aus meiner Bodenhaut, vergrößert das Loch fast auf ganzer Länge. Jetzt sieht man erst, wie groß das ist. Die Folie ist aufgebläht, wie mit Luft gefüllt, es ist aber keine Luft ... dahinter ist es ganz schwarz. Und flüssig. Josef würgt, ich höre, wie er immer wieder schluckt. Dann nähert sich seine Hand dem - Ding. Lass es, Josef, lass es einfach! Seine zittrigen Finger schweben darüber, ganz langsam senkt er den Arm hinab, bis er das Material berührt, sehr, sehr langsam, vorsichtig. Es fühlt sich spröde an, so alt ist die Folie schon. Er macht weiter. Seine Fingerkuppen drücken sich ein, in das gefangene Gas, das an unsichtbaren Stellen entweichen kann. Es stinkt, es stinkt fürchterlich! Aber Josef macht weiter, bis das Plastik das Schwarze berührt, eintaucht in diese kalte, schwarze Brühe. Josef? Er ist wie besessen, zittert am ganzen Körper, schwitzt zugleich, trotz der Kälte, schwitzt und schnauft, sein Atem dampft. Und dann taucht für einen kurzen Moment etwas Blankes, Weißes auf ...

Achmed, Josef, da hinten kommt Achmed! Ich hätte dich warnen sollen, habe es selber zu spät gemerkt, natürlich, er hat die Bahn verpasst! Jetzt muss er sein Fahrrad nehmen. Es steht in der Tiefgarage, hinten, in dem Verschlag. Die zufallende Eisentür macht hinter Achmed ein schmatzendes Geräusch ...

Und plötzlich bin ich bei Mutter! Mutter ist mir unheimlich. Ist vom Stuhl hochgefahren, als hätte sie die zufallende Tür gehört. Sie hat sich gerade in ihre schmale Küchenzeile gezwängt, den Rollator neben den kleinen Resopaltisch abgestellt, sich hingesetzt und eine Tasse löslichen Kaffee aufgebrüht. Hat dabei zwei Zigaretten geraucht und immer wieder eine Nummer in ihr schnurloses Telefon getippt. Und dann, weil keiner rangegangen ist, hat sie es mit einem Grunzen neben den vor sich hinschwelenden Aschenbecher geknallt. Das war Josefs Handynummer gewesen. Und Josef hat sein Handy nicht dabei, was sie überhaupt nicht leiden kann. Aber dass sie jetzt so aufgeschreckt ist? Beinahe wäre ihr die Tasse umgefallen. Steht vor ihrem Stuhl, ganz wackelig, aber sie steht. Sie zittert. Am ganzen Körper. Irgendwie versucht sie noch einen Schluck zu nehmen, aber die Tasse schlackert so sehr in ihrer Hand, dass die Hälfte der schwarzen Flüssigkeit auf den Tisch platscht. Sie lässt es. Greift fest an ihren Rollator und drückt ihr arthritisches Rückgrat durch. Dabei rasselt ihre Lunge wie eine Eisenkette. Sie schnauft. Greift in die Seitentasche ihrer schwarzen Strickjacke und holt eine Schachtel HB heraus. Dazu das kleine Benzinfeuerzeug. Erst als sie drei tiefe Züge genommen hat, beruhigt sie sich ein wenig. Nun hat ihr Blick etwas Entschiedenes. Qualmend stapft sie zur Wohnungstür. Dort, in diesem etwas zu großen, dunklen Spalt zwischen dem Hängeschrank und der Wand steckt ein faustgroßer Stahlring mit vielen Schlüsseln ...

Achmed eilt durch die Tiefgarage, rennt beinahe, und sieht Josef erst, als der aus der Parklücke heraustritt.
"Ah Josef, hallo, ich muss Fahrrad nehm'!"
Josef ist immer noch ganz durcheinander, jetzt aber blass, kalkweiß, gar nicht mehr rot, trotz der Schweißperlen. Er kann nicht reden, hebt nur kraftlos den Arm zum Gruß und versucht so etwas wie ein Lächeln.
Achmed ist schon fast vorbei, doch dann bleibt er stehen. Dreht sich um.
"Josef, du okay?"
Josef nickt nur stumm.
"Was da gemacht, in Ecke?"
"Eeeh, ni... nichts ... is' okay!"
Achmed ist kleiner, aber es gelingt ihm, einen Blick an Josef vorbei auf das Loch zu werfen.
"Ah Estrich kaputt! Ich kann mache, ich gut Baustelle, du willst ich helfen?" Dabei wedelt sein Oberkörper hin und her, weil Josef instinktiv versucht, ihm den Blick zu versperren.
"Ne... nein, danke, nein."
Doch schon hat sich Achmed an Josef vorbei geschoben.
Wir halten die Luft an. Auch das noch!
"Das nix gutt Estrich! Ganz viele zu dünn. Estrich muss dicken!"
"Ja, ja, diese Baufehler", Josef hat kaum noch eine Stimme, seine Worte kraftloses Japsen.
Achmed drückt Josef die Ledertasche in die Arme. Schon hat er sich gebückt, hat einen der Placken aufgehoben.
"Siehste: dünn! Und was das Folie?"
"Ja, jaaa, Dämmung, schwimmender Estrich halt ..." Josef muss tief einatmen. Die Tasche ist warm. Und duftet. Der Duft verdrängt den Gestank. Ganz langsam hebt er die Tasche hoch, legt sie sich auf die Brust
. "Dämmung? In Keller? Und so dünne? Koste viele Geld in Keller. Muss nix. Nur Wohnung! Was isse stinke hier?"
"Weiß auch nicht ..." Josef flüstert nur noch. Köfte, mit viel Knoblauch und Paprika ...

Mutter lässt den Schlüsselring in der Strickjackentasche verschwinden und betritt den Aufzug, beachtet Erhan gar nicht, den jungen Kerl, der, von oben kommend, ins EG möchte. Sie schiebt den Rollator vor und drückt zum ersten Mal seit vielen Jahren auf UG.
"Frau Panke, Sie wollen in Keller?"
"Und du junger Mann, kommst grad' von der Acht?"
Der Junge grinst. Ich weiß, dass er denkt, dass sie denkt, er wäre bei der Malevic gewesen. Ich weiß auch, dass er eigentlich gerne bei der Malevic gewesen wäre. Aber er ist zu schüchtern. Sein Glück.
"Was soll ich in der Acht? Ich wohn in Vier, bei mein' Eltern, und muss jetzt zur Schule, keine Zeit für was Sie denken!"
"In die Acht solltest du auch nicht gehen, Junge, das ist ein Saustall da oben!"
Erhan sieht sie irritiert an.
"Die Malevic. Und die Türken, was die da treiben ..."
"Meine Freunde, im Achten, das sind Araber, wissen Sie ..."
"Araber, was?" Mutter schnaubt.
"Frau Panke, das sind Freunde, egal ob Araber oder Türken, aber die sind anständig! Was denken Sie?"
Dabei macht er eine seiner typischen Handbewegungen und verzieht die Lippen zu einem augenzwinkernd provozierenden Kussmund. Während der anschließenden Fahrt reden sie kein Wort mehr. Die Wohngemeinschaft der drei jungen Männer aus dem Jemen, nur zwei Türen neben der Malevic, die ist Mutter suspekt. Dabei sind das nur Studenten. Architektur, Hochbau. Wenn die nicht in der Uni sind, dann hängen sie in ihrer Wohnung ab. Und Erhan mit ihnen. Trinken Tee, und manchmal Bier, wenn sie nicht beten müssen. Ansonsten viel zu laute Orientmusik und ständiges Palavern. Entweder in einer Sprache, die ich nicht verstehe, oder, wenn Erhan da ist, in Deutsch. Aber es wird kaum geredet, wegen der Computerspiele, mit viel Geballer, Mord und Totschlag.
Als Erhan im EG aussteigt, ist Mutter allein. Schweigend und mit einem immer finsterer werdenden Blick sinkt sie hinab ...

"Bäh!", schnaubt Achmed, "was das Folie? Das alles nass und stinke! Josef, was isse das?!"
Josef schüttelt nur noch den Kopf. Steht da, mit eingefallenen Schultern, gebeugt, grau im Gesicht, Achmeds Tasche krampfhaft vor die Brust gepresst. Achmed nimmt eines der Estrichstücke und drückt es vorsichtig auf die Folie. Josef schließt die Lider. So entgeht ihm das bleiche Grinsen schwarzer Augenhöhlen. Hinter einer kleinen Nickelbrille. Achmed kreischt. Mit einer Stimme, viel zu hoch für einen Mann. Er springt auf, der Schädel taucht wieder ein.
"Allah askina! Ölu orada! Ölü!"
Josef und ich verstehen kein Wort. Achmed rennt wie angestochen hin und her, gestikuliert wild fuchtelnd mit seinen derben Maurerhänden, und in der kalten Luft dampft sein Atem. Dann kommt er wieder zu Josef, der wie versteinert den köstlichen Geruch aus Achmeds Tasche einatmet, in den sich ganz unmerklich ein bittersüßer Beigeschmack untermischt, der nicht vom gebratenen Fleisch kommt.
"Josef, du nicht gesehen? Das Leiche! das Morder! das umgebracht! Nicht geseh'n oder was?"
Josef schüttelt sein Gesicht, das nicht weniger weiß ist als das in der Grube.
"Josef, du blind! Nix rieche? Das stinke hier alles! Das nix Dämmung! Pah! Das Morder! Das Polizei holen! Oh Scheise, ich nix Arbeit, Chef Ärger, Scheise, Scheise, Scheise!"
"Geh nur ...", haucht Josef, "ich mach das schon ..."
"Du?" Achmed schüttelt heftig den Kopf, "du Schock Josef, ich sehen! Nix du mache! Ich Polizei, ich nix Angst Polizei!"
"JOOOSEFF!!!" Mutter Stimme donnert dumpf durch die Stahltür. Sie hat Li-Xin entdeckt!